top of page
IMG_2333.JPG

Persönliche Entwicklung

Inwiefern ist Entwicklung grundlegend fürs Menschsein? Was macht Entwicklung aus?

Worauf kommt es bei Entwicklung an? Was führt zu einer guten Entwicklung?

 

Mich faszinieren die grundlegenden Gegebenheiten des Lebens: zu diesen gehört die Tatsache, dass menschliches Leben als Entwicklung von statten geht. Von Anfang an und bis zum Ende unseres Lebens haben wir es mit Entwicklung zu tun. Wir leben, werden älter, unsere Fähigkeiten verändern sich, wir werden in verschiedenen Altersphasen mit unterschiedlichen Anforderungen konfrontiert. Wie gut wir die Herausforderungen des Lebens bewältigen hängt davon ab, wie unser bisheriger Entwicklungsverlauf und insbesondere unsere Beziehungserfahrungen aussahen. Und unser heutiger Entwicklungsstand und unsere Entscheidungen heute beeinflussen wiederum unseren weiteren Entwicklungsverlauf.

Im Folgenden deshalb einige Kernmerkmale von Entwicklung, wie sie von bedeutenden Entwicklungspsychologen formuliert wurden.

Zum Einstieg:

Wo habe ich mich im letzten Jahr weiterentwickelt?

Welche Entwicklungsziele habe ich zur Zeit?

1. Entwicklung ist eine Reihe von miteinander zusammenhängenden Veränderungen im Lebenslauf (Hans Thomae, 1959)

Entwicklung ist Veränderung über die Zeit – Entwicklung gibt es also nur im Zusammenhang mit Zeit, über den Zeitverlauf des menschlichen Lebens hinweg.

Entwicklung ist ein fundamentales Kriterium von Leben – Entwicklung und Leben hängen unmittelbar zusammen. Leben findet als Entwicklungs- und Veränderungsprozess statt. Der Prozess des Lebens ist sozusagen die Basis für Entwicklung.

D.h. der Mensch als biologisches Wesen muss sich entwickeln: er kommt zwar mit allem ausgerüstet, aber abhängig und unfertig auf die Welt; er wird größer und wächst, erlernt Fähigkeiten, macht Erfahrungen - und muss all diese Prozesse auch psychisch verarbeiten bzw. integrieren.

Entwicklung ist also fundamental und unumgänglich. Entsprechend dem Axiom von Watzlawick in Bezug auf Kommunikation „man kann nicht nicht kommunizieren“, könnte man ebenso formulieren „man kann sich nicht nicht entwickeln“.  Allerdings ist nicht jede Weiterentwicklung zwangsläufig positiv.

To do: Veränderung akzeptieren!

Es ist wichtig, zu realisieren und zu akzeptieren, dass Veränderung zentral zum Leben gehört. Wer immer das Gleiche beibehalten will, stellt sich gegen eine Grundgegebenheit des Lebens. Es ist günstig, sich auf absehbare Veränderungen vorab einzustellen. Wer dies tut, fördert seine psychische Widerstandkraft und geht somit krisenfester durchs Leben (Zukunftsorientierung gilt als eine Säule von Resilienz).

Impuls zum Weiterdenken

Obwohl Leben Veränderung ist, hat der Mensch gleichzeitig eine Sehnsucht nach dem Gleichbleibenden, nach Kontinuität in sich. Im Lebensverlauf wechseln sich oft Phasen der Kontinuität mit Phasen des Wachstums ab.  Besonders die schönen Phasen und die herausragenden Momente des Lebens sind meist mit dem Wunsch verbunden, dieser Zustand möge ewig dauern. Gott wird aus christlich-spiritueller Sicht so beschrieben, dass Er sich außerhalb der Zeit befindet, keiner Veränderung unterliegt und von Ewigkeit zu Ewigkeit währt. D.h. das Leben in der Zeit ist eine Bedingung, die menschliches und göttliches Leben unterscheidet. Und: die Probleme, die der Mensch mit den Phänomenen Zeit und Veränderung hat, könnten damit zu tun haben, dass er eigentlich für die Ewigkeit gemacht ist.

2.  Entwicklung ist ein „bedeutungsvolles und kohärentes Geschehen“ (Heidi Keller, 1998)

Hinter dieser Aussage steht die Annahme eines Entwicklungskontinuums, d.h. die Sichtweise, dass es einen Zusammenhang zwischen früheren Erfahrungen und späterem psychischen Zustand bzw. psychischem Wohlergehen gibt.

Was zu einzelnen Zeitpunkten im Leben passiert, hängt miteinander zusammen und hat Einfluss auf psychische Funktionen. Wer also heute bestimmte Eigenheiten, Reaktionsweisen, Schwierigkeiten bei sich nicht einordnen und verstehen kann, für den lohnt sich immer der Blick zurück.

Bsp: Man weiß heute, dass mangelnde Fähigkeiten bei Erwachsenen, mit Stress umzugehen, bereits im Säuglingsalter prädisponiert werden. Regulationsprobleme im Säuglingsalter wirken sich auf die Stressverarbeitungskapazitäten im Kindes- und Erwachsenenalter aus. Oder anders: wer als Säugling viel feinfühlige Zuwendung mit adäquater Reaktion auf eigene Bedürfnisse und Gefühle erlebt hat, kann später besser mit Stress umgehen.

To do:  das eigene Entwicklungskontinuum im eigenen Leben anschauen und verstehen lernen

Es lohnt sich bei aktuellen Symptomen immer, einen Blick zurück zu werfen: wie hat sich diese Problematik entwickelt? Welche Prägung habe ich erlebt? Von wem habe ich gelernt? Was sind meine Glaubensätze in dieser Sache?  Welche Entscheidungen habe ich diesbezüglich schon getroffen? Man kann vieles verstehen, wenn man das Entwicklungskontinuum im eigenen Leben anschaut und auf diese Weise Zusammenhänge klar werden. Dies gilt ganz besonders für den Bereich der Beziehungsfähigkeit.

Impuls zum Weiterdenken

Das Entwicklungskontinuum lässt an das spirituelle Prinzip von Saat und Ernte denken: „Was der Mensch sät, das wird er auch ernten“. Hier wird ebenfalls der Gedanke transportiert, dass es einen „roten Faden“ im eigenen Leben gibt. Früh getroffene, eventuell unbewusste Entscheidungen, wirken sich aus und lassen „Früchte“ wachsen, die später geerntet werden. Z.B. die Entscheidung, sich von den eigenen Gefühlen abzuschotten oder eine „alles, nur das nicht…“-Festlegung. Hilfreich und tröstlich kann in diesem Zusammenhang die Sichtweise sein, dass so manche früh getroffene Entscheidung damals primär dem eigenen Überleben und dem eigenen Schutz geschuldet ist und deshalb eine wichtige Funktion hatte

 

 

3. Entwicklung ist eine Folge der qualitativ unterschiedlichen Lösung von Entwicklungsaufgaben (Robert J. Havighurst, 1972)

Das Leben selbst stellt durch den automatisch ablaufenden biologischen Veränderungsprozess und durch Vorgaben der Gesellschaft ständig diverse Entwicklungsaufgaben (z.B. Laufen lernen, Schuleintritt, Freunde gewinnen, einen Beruf finden, einen Partner finden)

Zusätzlich setzen wir uns selbst Ziele und damit persönliche Entwicklungsaufgaben (z.B. Instrument lernen, Biografie schreiben, Marathon laufen, Wutanfälle reduzieren, Nein sagen lernen).

Diese Aufgaben werden von unterschiedlichen Menschen unterschiedlich gut gelöst, wobei sich die früheren Lösungen auf spätere Lösungsfähigkeiten auswirken. Beispiel: wenn es mir im Grundschulalter nicht gelungen ist, Freunde zu finden, wirkt sich dies meist ungünstig auf die spätere Fähigkeit, sich ein Beziehungsnetz aufzubauen aus. Oder: wenn die Aufgabe, eine sichere Bindungsbeziehung aufzubauen im Säuglingsalter nicht gelungen ist, wirkt sich dies gravierend auf die Entwicklung von Vertrauen in sich selbst, andere und die Welt aus, also insgesamt auf meine Beziehung zu mir, zu anderen und zum Leben an sich.

Je früher die Entwicklungsaufgaben angesiedelt sind, desto weitreichender die Auswirkungen, da im frühen Kindesalter zentrale Prozesse in der Gehirnentwicklung ablaufen, die die Basis für alle weiteren Prozesse legen und zudem die Entwicklungsgeschwindigkeit in der frühen Kindheit enorm hoch ist.

To do: gelungene, weniger gelungene und anstehende Entwicklungsaufgaben anschauen

Es lohnt sich, das eigene Leben unter dem Aspekt mehr oder weniger gelungener  Entwicklungsaufgaben anzuschauen und manche Aufgaben „nach zu erledigen“; z.B. im Nachhinein in Partnerschaft oder Therapie eine sichere Bindungsbeziehung aufbauen, wenn dies im Kindesalter nicht möglich war. Oder: im Nachhinein lernen, wie man Freunde gewinnt und Freundschaften pflegt. Ebenso ist es hilfreich, die momentane Lebensphase unter dem Aspekt zu betrachten, welche Entwicklungsaufgaben gerade anstehen (s. Havighurst, Erikson). Dieser Blick kann Orientierung geben, was gerade dran ist.

Impuls zum Weiterdenken

In vielen psychologisch bedeutsamen bzw. archetypischen Erzählungen, wie Märchen, Sagen, Epen, findet sich der Gedanke wieder, dass Menschen im Leben Aufgaben zu bewältigen haben, die von herausfordernder Qualität sind, den Menschen viel abverlangen und an denen sich ihr Charakter zeigt bzw. die ihren Charakter formen (s. auch Heldenreise, Heldenepos). Oft geht die gleiche Aufgabe an verschiedene Personen (z.B. an die drei Söhne des Königs), und wird dann sehr  unterschiedlich angegangen bzw. erledigt wird und gibt auf diese Weise Hinweise, wer für bestimmte Positionen geeignet oder nicht geeignet ist.

Wir stehen aus christlich-spiritueller Sicht alle vor der zentralen Aufgabe im Leben, sowohl uns selbst als auch Gott kennen- und lieben zu lernen. Beide Prozesse sind stark miteinander verwoben, fordern uns heraus und brauchen Mut.

4.  Entwicklung ist Folge unterschiedlicher Interaktionsart und Interaktions-Qualität zwischen Individuum und Umwelt (John Bowlby, 1979)

Entwicklung ist also die Folge davon, wie wichtige Menschen („signifikant others“, also Eltern, Erzieherinnen, Lehrer) mit einem umgegangen sind und ob die Art und Weise dieser Interaktionen eine gute, förderliche oder inadäquate Qualität hatte. Dabei sind keine perfekten Bezugspersonen, sondern sogenannte „good enough“ Interaktionspartner gefragt (Winnicott).

Auch das gegenwärtige Beziehungsgefüge, in dem man als Erwachsener lebt, kann von eher förderlichen oder eher hinderlichen Interaktionen geprägt sein – und auf diese Weise die derzeitige Entwicklung beeinflussen.

Gleiche Entwicklungsaufgaben sind unterschiedlich herausfordernd je nach Art der Umwelt, in der sie stattfinden bzw. je nach Unterstützung durch das Umfeld. So kann der Schuleintritt eine leichte oder schwere Aufgabe sein für ein Kind, je nach Art der Schule bzw. Klasse, in die es kommt, je nach Passung mit der ersten Lehrkraft, je nach häuslicher Unterstützung).

Generell gilt, dass Menschen Entwicklungsaufgaben nie alleine lösen, sondern immer im Rahmen ihres Beziehungsnetzes, das sie dabei mehr oder weniger gut unterstützt. Der Mensch ist durch und durch ein soziales Wesen, also ein Beziehungswesen, und sein vorhandenes oder nicht vorhandenes Beziehungsnetz ist demzufolge von großer Bedeutung.

Die ersten Entwicklungsaufgaben (Regulation, Bindung) kann der Mensch nur mit Hilfe von Bezugspersonen lösen, da er als „physiologische Frühgeburt“ allein nicht überleben würde und stattdessen völlig auf zugewandte, fürsorgliche Personen angewiesen ist.

To do: sich als Beziehungswesen sehen

Es ist beim Blick auf Entwicklung zentral, sich als Mensch als Beziehungswesen zu sehen. Deshalb ist der Blick zurück auf prägende Bezugspersonen immer sehr wertvoll. Was habe ich bekommen, was habe ich vermisst, was hat mir gut getan, was hat mir geschadet, wer war für mich da, wer hat an mich geglaubt, wer hat mich getröstet und mir Sicherheit gegeben?

Es lohnt sich, im Erwachsenenalter auf qualitativ gute, vertrauensvolle, wechselseitige Beziehungen zu achten und diese zu pflegen. Die Resilienzforschung benennt Beziehungs- und Netzwerkorientierung neben Optimismus und Zuversicht als eine der beiden Hauptsäulen für psychische Widerstandskraft.

Impuls zum Weiterdenken:

Menschliches Leben entsteht und wächst in Beziehungen. Das Element von Beziehung ist zentral in der Schöpfung verankert. Nach christlicher Vorstellung geht dieses Primat von Beziehung auf das Wesen Gottes zurück: Gott wird als dreieiniger Gott gesehen der in sich selbst Beziehung pflegt  (Vater, Sohn, Hl. Geist). Auch was das Verhältnis von Mensch und Gott angeht, steht das Element von Beziehung, in Form einer vertrauensvolle, freiwillig bejahte Bindung im Fokus (nicht das Einhalten von Regeln und Vorgaben).

Exkurs: Was sind Kriterien guter Beziehungsqualität?

Für den Entwicklungsabschnitt „frühe Kindheit“ (0-1 ½ Jahre) ist im Rahmen der Bindungstheorie die „Feinfühligkeit“ (Ainsworth, 1979) als zentrale Beziehungsqualität definiert und in zahlreichen Untersuchungen in ihrer entwicklungsfördernden Wirkung gut belegt. Feinfühligkeit bedeutet, die Signale des Kindes wahrzunehmen und daraufhin schnell und angemessen zu reagieren. Dies meint zunächst, dass das Kind als eigenständige Person gesehen wird und mit allen Bedürfnissen und Gefühlen akzeptiert wird. Zudem reagiert die jeweilige Bindungsperson auf diese Signale zeitnah und adäquat, d.h. sie gibt die Unterstützung, die das Kind gerade braucht, nicht zu viel und nicht zu wenig (Responsitivität, emotionale Verfügbarkeit).

Die Botschaften, die ein so behandelter Mensch empfängt und in der Regel verinnerlicht sind: ich bin wichtig, ich werde gesehen, alle meine Gefühle und Bedürfnisse sind in Ordnung/haben einen Platz,  ich bekomme schnell die Hilfe und Unterstützung, die ich brauche. Daraus erwächst Vertrauen in die eigene Person (ich bin wichtig und wertvoll, meine Signale sind wirksam), die Anderen (andere sind zugewandt und bereit zu helfen) und die Welt an sich (die Welt ist ein Ort, an dem es sich leben lässt; in der Regel wendet sich alles schnell wieder zum Guten; ich kann mit Hilfe anderer das Leben gut bewältigen).

Daraus lassen sich Grundbotschaften ableiten, die möglicherweise lebenslang und in diversen Kontexten (Familie, Partnerschaft, Beruf) entwicklungsfördernde Wirkungen entfalten. Diese Botschaften habe ich folgendermaßen formuliert:

Ich sehe und akzeptiere dich: Du bist okay

Ich traue dir etwas zu:              Du hast Potential

Ich helfe dir, wo nötig:              Du bekommst Hilfe, wenn du sie brauchst

Diese Botschaften bzw. Haltungen korrespondieren mit den in der Psychotherapie, besonders der Gesprächspsychotherapie, postulierten Grundhaltungen, die Therapeuten an den Tag legen sollen, um ihren Klienten positive Veränderungsprozesse zu ermöglichen: unbedingte Wertschätzung, Empathie und Authentizität.

To do: das eigene Leben auf diese Grundbotschaften hin explorieren

Das eigene Leben dahingehend eforschen: von wem wurde ich als Mensch gesehen, akzeptiert und gemocht? Wer hat an mich geglaubt? Auf wen konnte ich mich verlassen, wo habe ich zuverlässig Hilfe bekommen? Wer in meinem heutigen Beziehungsnetzwerk fördert in der beschriebenen Weise meine Weiterentwicklung?

Impuls zum Weiterdenken:

Der Gott der Bibel präsentiert sich in Jesus dem Menschen gegenüber genau mit diesen Botschaften und hat vielleicht auch deshalb eine immens entwicklungsfördernde Wirkung, wenn Er in einem Menschenleben zum Zug kommen darf. Er spricht jedem Menschen zu:

Ich sehe dich und ich liebe dich, so wie du bist

Ich trau dir etwas zu, ich habe spezielle Gaben in dich hineingelegt

Ich bin immer für dich da und helfe dir

Zusammenfassung

Entwicklung ist Veränderung über die Zeit/den Lebenslauf.

Entwicklung ist nicht vermeidbar: das Leben stellt Entwicklungsaufgaben, die zu bewältigen sind.

Wie frühe Entwicklungsaufgaben gelöst wurden, ist die Basis für die Lösung späterer Aufgaben.

Wie Entwicklungsaufgaben gelöst werden können, hängt immer auch vom Kontext und insbesondere von der Interaktion zwischen Individuum und Umwelt ab.

Je jünger bzw. je hilfsbedürftiger der Mensch, desto größer der Einfluss der Interaktionen mit der Umwelt.

Wie gut die Entwicklungsaufgaben gemeistert werden können (z.B. sichere Bindungsbeziehung aufbauen, ein Beziehungsnetz aufbauen, einen geeigneten Beruf finden), wirkt sich wesentlich auf die weitere Entwicklung aus.

Die Veränderung, die der Entwicklung innewohnt, hat einen immanenten Sinn und inhärenten Zusammenhang (Kontinuum) – sie ist bedeutsam, sie sagt etwas aus über den jeweiligen Menschen.

Generell ist Entwicklung offen, nicht deterministisch und monokausal, da der Mensch sein Leben durch eigene Entscheidungen wesentlich mitprägt.

Für eine gelingende Entwicklung sind bestimmte Interaktionserfahrungen in Form von Grundbotschaften förderlich, nämlich „Ich sehe und akzeptiere dich“, „ich traue dir etwas zu und glaube an dein Potential“, „ich bin für dich da und helfe dir, wo nötig“.

.

 

 

bottom of page